Das Projekt

In Zeiten multipler Krisendiskurse vom Brexit über die Corona-Pandemie bis zum Klimawandel betonen die Institutionen und Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU) vermehrt die Rolle der EU als Garantin von Sicherheit und Schutz für die europäischen Bürger*innen in ungewissen Zeiten. ZUSE untersucht, ob, wie und mit welchen Konsequenzen sich hier jenseits der Bearbeitung und Benennung konkreter Sicherheitsbedrohungen ein neuer Leitnarrativ zur Organisation von Zusammenhalt in und zwischen europäischen Gesellschaften etabliert, der etablierte Konzepte wie das „Friedensprojekt Europa“ oder den Binnenmarkt verdrängt. Wir gehen dabei davon aus, dass es nicht nur um physische Sicherheit vor konkreten Gefahren geht, sondern auch um "ontologische Sicherheit" im Sinne eines klaren und stabilen Selbstbildes in einer als unsicher wahrgenommenen Umgebung.

ZUSE bearbeitet drei zentrale Sets von Leitfragen:

  1. Wie, von wem und inwieweit wird „Sicherheit“ als Leitnarrativ zur Organisation europäischen Zusammenhalts im öffentlichen Diskurs etabliert? Welche Verständnisse von Sicherheit und Zusammenhalt liegen dem zugrunde? Welche Selbst- und Fremdbilder kommen darin zum Ausdruck?

  2. Wie wird das Verhältnis von Sicherheit und Zusammenhalt konkret ausgestaltet? In welchen Interaktionen und Praktiken zeigt sich dies auf verschiedenen Ebenen und wie erfahren unterschiedliche Akteure diesen Zusammenhang in ihren alltäglichen Kontexten?

  3. Welche Ambivalenzen und nicht-intendierten Konsequenzen sind damit verbunden? Wo zeigen sich Exklusionseffekte? Und wie könnten diversitätsaffinere Konzeptionen von Sicherheit aussehen?

Diese Leitfragen werden von den beteiligten Forschungsinstitutionen auf drei Ebenen mit verschiedenen analytischen und empirischen Schwerpunkten und aus Perspektive unterschiedlicher disziplinärer Zugänge beleuchtet. Die Erkenntnisse daraus werden abschließend in einem ebenübergreifenden Vergleich zusammengeführt.


Auf der politischen Ebene steht die Frage im Zentrum, in welchem Zusammenhang Sicherheit und Zusammenhalt in den Debatten im Bundestag und im Europäischen Parlament, aber auch von anderen Entscheidungsträgern in Kommission und mitgliedstaatlichen Regierungen gesehen werden. Dabei interessiert uns insbesondere, wie sich die Bedeutungen von Sicherheit und Zusammenhalt seit den 1990er Jahren verändert haben, ob sie sich in verschiedenen Politikfeldern unterscheiden und ob bestimmte Formen von Sicherheitskonstruktionen mit offeneren Verständnissen von Zusammenhalt verwoben sind und damit die Ausschlussmechanismen der klassischen "Versicherheitlichung" vermeiden. Dieses Teilprojekt wird am Institut für Politikwissenschaft der Universität Tübingen bearbeitet.

Auf der administrativen Eben untersuchen wir, welche übergeordneten Narrative der EU als Sicherheitsgarantin in ihrer Selbstdarstellung der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart vorherrschen und wie sich diese in konkrete Vorstellungen und Interaktionen im "Maschinenraum" der europäischen Integration übersetzen. Neben der Analyse offizieller Dokumente führen wir hier daher vor allem Interviews mit administrativen Expert*innen in der Europäischen Kommission, dem Rat der Europäischen Union, dem Europäischen Parlament und den Vertretungen der Mitgliedsstaaten, aber auch mit Vertreter*innen von Think Tanks und NGOs in Brüssel. Dieses Teilprojekt wird vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg bearbeitet.

Das Teilprojekt zielt darauf, die soziale und gesellschaftliche Dimension des Themas zu erfassen und beschäftigt sich mit der Herstellung, Aushandlung und Transformation sicherheitsbezogener Europabilder im Alltag. Im Zentrum steht die Frage, in welchen sozialen Prozessen sich Vorstellungen über »(Un-)Sicherheit« und Zusammenhalt in Europa formieren und verändern, und wie sie sich in der Alltagserfahrung artikulieren. Hierzu nimmt das Teilprojekt ein gesellschaftliches und politisches Handlungsfeld in den Blick, das in besonderer Weise durch Konflikte zwischen Idealen europäischer Solidarität und europäischen Zusammenhalts einerseits und europäischen Sicherheitsinteressen andererseits gekennzeichnet ist: der Umgang mit Menschen, die als Geflüchtete nach Europa kommen (Fluchtmigration). In diesem Feld werden sicherheitsbezogene Europavorstellungen handlungspraktisch relevant. Für das Teilprojekt führen wir ethnographische Feldforschung in einem asymetrischen mutisited-Forschungsdesign durch: im Rhein-Ruhr-Maas Raum (DE, NL, BE) sowie auf Lesvos, Lampedusa und den Kanaren (GR, IT, ESP). Die Thematik wird vom Team der Professur für Allgmeine Soziologie mit Schwerpunkt Gesellschaftsanalyse und sozialer Wandel an der HSU bearbeitet.